Indianer Nordamerikas \(16. bis 18. Jahrhundert\): Kinder Manitus

Indianer Nordamerikas \(16. bis 18. Jahrhundert\): Kinder Manitus
Indianer Nordamerikas (16. bis 18. Jahrhundert): Kinder Manitus
 
Kulturvernichtung und Neubesinnung
 
Lange Zeit vernachlässigten die Darstellungen zur Geschichte Nordamerikas die Bedeutung der indianischen Völker. Erst in jüngster Zeit treten die erstaunlichen kulturellen Leistungen der amerikanischen Ureinwohner ins Bewusstsein, wird ihre Rolle bei der Durchsetzung der europäischen Expansion in Nordamerika gewürdigt. Ohne die Hilfe der Indianer, die damit letztlich ihre eigene Vernichtung vorbereiteten, hätten viele europäische Siedlungen an der Ostküste nicht überlebt. Für die Behandlung der Geschichte der amerikanischen Ureinwohner gilt daher in noch viel stärkerem Maße als für die der Indios Mittel- und Südamerikas: Die europäische Expansion war für die indianischen Ethnien ein Prozess der kulturellen Vernichtung. Was wir heute über die Geschichte und die schriftlose Kultur der amerikanischen Ureinwohner wissen, beruht zum großen Teil auf archäologischen Funden und ethnologischen Studien über heute noch lebende Gruppen. Eine wichtige Quelle stellen weiterhin die Aufzeichnungen von Reisenden, insbesondere aber die Berichte französischer Jesuitenmissionare dar.
 
Wie für die indianischen Völker Mittel- und Südamerikas bedeutete das Eindringen des »weißen Mannes« für die Ethnien des nördlichen Amerika eine tiefe Zäsur. Dabei ist freilich zu betonen, dass der Grad der Begegnung bzw. des kulturellen Zusammenpralls je nach Region sehr unterschiedlich ausfiel. Die meisten Ethnien des Mittleren Westens konnten bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts, ja manche in der Subarktis lebenden Gruppen Kanadas, die Inuit, bis zu Beginn unseres Jahrhunderts den Weißen ausweichen.
 
 Zahl und Untergliederung der Indianer Nordamerikas
 
Von den schätzungsweise 54 Millionen Ureinwohnern Amerikas, die um das Jahr 1500 in beiden Subkontinenten lebten, entfielen auf die Gebiete der heutigen USA und Kanadas etwa vier Millionen bzw. zwei Millionen. Die deutlich geringere Besiedlung des nördlichen Teils des Subkontinentes gegenüber Mittel- und Südamerika liegt u. a. in den ökologischen Bedingungen begründet. Die arktische Tundra und die subarktische Vegetationszone der Taiga, die weite Teile Kanadas umfassen, erlaubten nur eine sehr dünne Besiedlung.
 
Von den ca. 2000 indianischen Sprachen des Doppelkontinentes entfielen auf Nordamerika etwa 250. Die Wissenschaft diskutiert aber auch Einteilungen in 500 unterschiedliche Idiome bzw. Dialekte. Diese lassen sich im Wesentlichen in zwölf große Sprachgruppen zusammenfassen. Als hauptsächliche nördliche Sprachfamilien gelten das im arktischen Kanada und Grönland beheimatete Eskaleut der Inuit und das im Westen und Nordwesten Kanadas gesprochene Athapaskan. Südöstlich bzw. östlich dieser Zone sowie am Süd- und Ostufer der Hudson Bay erstreckt sich bis an die Neuenglandküste das Sprachgebiet der Algonkin. Umgeben von algonkinschen Einflusszonen, entlang des Sankt-Lorenz-Stroms und am östlichen Ufer der Großen Seen, lag das irokesische Gebiet. Am Westufer des Sankt-Lorenz-Stromes, auch umschlossen von den Algonkin, siedelten die irokesischsprachigen Huronen. Die Sprachgebiete waren keineswegs einheitlich: Einzelne Sprachinseln waren fern von ihrem Hauptverbreitungsgebiet anzutreffen, und innerhalb einer Sprachfamilie unterschieden sich die indianischen Idiome oft radikal.
 
 Indianische Wanderungen und Binnenkontakte
 
Die sprachliche Zersplitterung liegt u. a. in den Wanderungen der amerikanischen Völker begründet. Waren die Ressourcen eines Landstriches erschöpft, so zogen die Gruppen in neue Gebiete. Änderten beispielsweise die Büffelherden ihre Wanderwege, folgte ihnen der Mensch nach. So waren die Navajos und die Apachen, die beide zur athapaskischen Sprachgruppe gehören, bis um 1500 aus Nordkanada in das Gebiet der heutigen südwestlichen US-Bundesstaaten eingewandert, wo sie sich als Feldbauern und Jäger niederließen. Neben dieser auf Dauer angelegten Suche nach neuem Lebensraum gab es Migrationen, die durch die Jahreszeiten bedingt waren. So zog z. B. jener Teil der Algonkin und Inuit, die vornehmlich in den subarktischen Zonen lebten, im Sommer, wenn der Boden der Tundra für kurze Zeit aufweichte, südwärts in die Gegend der Großen Seen, um Wild zu jagen.
 
Diese Wanderungen beschworen auch Konflikte innerhalb der indianischen Gemeinschaften herauf. Doch die Beziehungen der indianischen Völker untereinander waren nicht nur von kriegerischen Auseinandersetzungen gekennzeichnet. Im Norden Amerikas florierte ein lebhafter Tauschhandel. Pelze wurden gegen die aus vulkanischem Gestein bestehenden Obsidianklingen eingetauscht, die man vornehmlich aus dem Süden bezog, oder gegen Zündsteine, die zum Feuermachen unerlässlich waren. Getrocknete Fische wechselten gegen Kupferstücke, die man für Äxte oder Pfeile verwenden konnte, ihren Besitzer.
 
Lebten die indianischen Gruppen in der Regel unverbunden nebeneinander, so bildeten sich im 16. Jahrhundert Konföderationen aus. Einer der bekanntesten Bünde entstand durch den Zusammenschluss fünf irokesischer Stämme (Cayuga, Mohawk, Oneida, Onandaga und Seneca) zu den »Fünf Nationen«. In Chesapeake (Virginia) brachte der Häuptling Powhatan, der den Pamumkey vorstand, eine Konföderation von etwa dreißig indianischen Gruppen zustande. Mit etwa zwanzig weiteren Stämmen schloss er Bündnisse.
 
 
Die zumeist zahlenmäßig geringe Stärke der nordamerikanischen Ethnien lässt sich insbesondere durch ihre (halb-)nomadische Lebensweise erklären. Wanderungen in größeren Verbänden waren nur schwer durchzuführen. Selbst die intensive Landwirtschaft betreibenden Stämme der Irokesen im Gebiet um New York umfassten kaum mehr als 40000 Menschen. In den Zonen, die bis zum Ende der Kolonialzeit von den Engländern eingenommen worden waren, lebten um das Jahr 1500 schätzungsweise nur etwa 150000 Menschen.
 
Im Gegensatz zu den süd- und mittelamerikanischen Kulturen gab es im Norden des Kontinents kaum größere Siedlungen und stadtähnliche Anlagen. Der größte Siedlungskomplex Nordamerikas — Cahokia mit gut 100 Erdhügeln — war im 16. Jahrhundert bereits verwaist. Die bei Saint Louis gelegene Stadtanlage war um das Jahr 600 n. Chr. gegründet und rund sieben Jahrhunderte lang besiedelt worden. Mit ihren pyramidenförmigen Bauten ähnelte Cahokia sehr den mittelamerikanischen Tempelbezirken. Einer Stadtanlage ähnlich waren allenfalls die etwa 70 Siedlungen der auf etwa 60000 Personen geschätzten Puebloindianer (Neu-Mexiko).
 
 Sozialstrukturen
 
Entsprechend der halbnomadischen Lebens- und Wirtschaftsweise der nordamerikanischen Völker war die soziale Organisation weniger komplex als bei den bürokratisch-hierarchisch aufgebauten Hochkulturen Mittel- und Südamerikas. In der Regel standen die Häuptlinge (sachem) den Verbänden vor. Sie leiteten zusammen mit dem Rat der erfahrenen Krieger und Jäger die Geschicke der Völker. Im amerikanischen Westen finden sich dagegen Ethnien mit einer annähernd egalitären Sozialorganisation. Dort wurden die Entscheidungen vom Rat aller erfahrenen Jäger gefällt. In den häufig auf Klan- und Familienbeziehungen basierenden Verbänden hatten die Frauen oft entscheidende Aufgaben und Rechte. Durch die hauptsächlich von ihnen ausgeführte Feldbestellung leisteten sie einen wesentlichen Beitrag zur Sicherung der Ernährungsgrundlage. Bei den Irokesen wurde der hohe Sozialstatus der Frauen in mehrfacher Hinsicht deutlich. So war die familiäre und soziale Zuordnung matrilinear, d. h. in der Erbfolge der mütterlichen Linie folgend, geregelt. Auch zog bei der Heirat der Mann zur Frau. Typisch für die Irokesen waren Langhäuser, in denen mehrere Familien untergebracht waren. Die Leitung des Klans, der in einem Langhaus wohnte, ruhte in den Händen einer Frau. Sie war es auch, die zusammen mit ihren Geschlechtsgenossinnen den sachem wählte. Umso befremdlicher wirkte auf die niederländischen, französischen und britischen Kolonisten, die im 17. Jahrhundert mit irokesischen Gruppen in Berührung kamen, dass diese nicht nur gegen rivalisierende Stämme (Mohikaner 1626), sondern auch ethnisch verwandte Großgruppen gnadenlose Vernichtungskriege (Huronen 1648—50) führten. Die Forschung hat nicht abschließend klären können, wie barbarische Grausamkeiten der Konfliktaustragung (Skalpieren, Marterpfahl-Zeremonien u. a.) zu interpretieren sind: als originäre Riten vieler Stämme oder als Folgen des europäischen Vordringens.
 
 Grundlagen der materiellen Kultur
 
Die Indianer Nordamerikas wiesen hinsichtlich ihrer materiellen Kultur große Unterschiede auf. Die kulturelle Vielfalt wird vor allem an den unterschiedlichen Behausungen deutlich. Das Spektrum reichte vom aus Eis und Schnee geformten Iglu der arktischen und z. T. subarktischen Völker über das im Mittleren Westen und Osten gebräuchliche Wigwam aus Fellen, Holz oder Stroh bis zu den Lehmstein- und Felsenwohnungen der Puebloindianer. Als Siedlungsform kannten viele Völker des Ostens das Langhaus und den Schutz der Siedlung mittels Palisadenmauern.
 
Die indianischen Völker ernährten sich den klimatischen und geographischen Bedingungen entsprechend. Die Fluss- und Küstenfischerei lieferte die Hauptnahrungsmittel für die Völker Westkanadas. Mit der Jagd nach Bisons sicherten sich die Prärieindianer des Mittleren Westens ihre Existenz. Bei den Waldbauernvölkern des amerikanischen Ostens waren die Jagd und das Sammeln vom Feldbau begleitet. Für diese Zone ist der Anbau von Mais, Bohnen und Kürbissen bezeugt, der auch bei mittelamerikanischen Kulturen anzutreffen ist. Hierbei überwog der Brandrodungsfeldbau. Durch ihn bekam die Landschaft Neuenglands jenes parkähnliche Aussehen, das die Europäer immer wieder beeindruckte und das sie zumeist für »natürlich« hielten, weil sie die von den Indianern bewirkten Naturveränderungen nicht erkannten.
 
Die klimatisch härtesten Bedingungen hatten wohl die Inuit und Teile der Algonkin zu meistern. Den Winter verbrachten die Algonkin bevorzugt im eisigen Norden. Beide, Algonkin und Inuit, lebten von der Jagd auf die Grönlandwale, denen sie in ihren Kanus nachstellten. Zum Transport über Land bedienten sie sich der Polarhunde. Das Karibu, eine Unterart des Rentiers, lieferte den Menschen des Nordens eine Kleidung mit hoher Wärmeisolierung. Mehrere Schichten Pelz und Leder umgaben die Körper der Inuit, und nur dank ihrer Anoraks und Parkas — beide Worte haben wir ihrer Sprache entlehnt — konnten sie die arktischen Temperaturen überleben. Ein wichtiger Bestandteil der Ernährung waren die Robben. Robben und Wale sorgten mit ihrem Tran auch für Licht und Wärme, indem sie das Tieröl lieferten. Im Sommer folgten die Algonkin den Fährten der Elche und Karibus in südlichere Regionen. Für kurze Zeit konnte der Speisezettel durch das Sammeln von Beeren und anderen Früchten bereichert werden.
 
 Religiöse Vorstellungen
 
So vielfältig wie die Werkzeuge und Behausungen waren auch die Formen der Religiosität. Für die indianischen Völker verkörperten sich die Gottheiten stets in der Natur, vornehmlich in Bergen und in Höhlen. Aber auch in Bäumen oder Naturgewalten erkannten die Menschen sie. Bei vielen Völkern finden sich Anklänge an den Monotheismus. Vor allem die Waldbauernvölker kannten einen einzigen Gott, der häufig als Manitu bezeichnet wurde. Die Vermittler zwischen Gott, der Natur und den Menschen waren bei den nordamerikanischen Ureinwohnern die Schamanen. Diese verfügten über seherische Fähigkeiten. Auch gehörte die Heilung von Kranken in ihren Aufgabenbereich, weshalb die Weißen sie als »Medizinmänner« titulierten. Für ihre Tätigkeit brachten sie sich in einen Rauschzustand, der meist durch die Einnahme von Tabaksaft oder das Verzehren halluzinogener Pilze oder Beeren erreicht wurde. Gelegentlich sind auch religiös begründete Formen des Kannibalismus von Europäern bezeugt.
 
Kaum nachhaltiger Erfolg war den christlichen Missionsversuchen beschieden. Zwar konnten v.a. die im heutigen Kanada tätigen französischen Jesuiten mitunter Erfolge aufweisen. Bei den puritanischen Engländern war das Interesse an der indianischen Katechese eher gering. Dies war eine Folge der besonders bei den Puritanern verbreiteten Überzeugung, dass ihnen, dem neuen »auserwählten Volk« Amerika als »gelobtes Land« von Gott verheißen und den Indianern die Rolle der zu unterwerfenden — gegebenenfalls auszurottenden Kanaaniter — zugedacht sei.
 
 Europäisch-indianischer Kulturaustausch
 
Ohne das indianische Wissen um die ökologischen Möglichkeiten und klimatischen Gefahren wären die Europäer, die seit dem 16. Jahrhundert in den amerikanischen Kontinent eindrangen, verloren gewesen. Die meist französischen Waldläufer, die im 17. und 18. Jahrhundert auf der Suche nach Fellen und Pelzen, die in Europa immer beliebter wurden, in die subarktische Zone vorstießen, hätten ohne die Hilfe und die Unterweisungen der Indianer, ohne die aus Fellen bestehende Kleidung, die aus Weiden geflochtenen Schneeschuhe, die hirschledernen Beinkleider und die Lederschuhe, die Mokassins, die z. T. extremen Temperaturen nicht überlebt. Beim Walfang vor Neufundland lernten baskische Fischer die indianischen Jagdmethoden mit der Harpune. Auch die Siedler, die sich 1607 unter der Führung von John Smith in Jamestown niederließen, hätten ohne die Versorgung durch die Powhatan mit Mais, Wild und anderen Gegenständen nicht überleben können.
 
Mit dem Einsetzen der europäischen Expansion veränderte sich die materielle Kultur der indianischen Völker grundlegend. Selbst jene Ethnien, die nicht direkt mit den Europäern in Berührung kamen, gerieten über den Zwischenhandel in den Genuss neuer Produkte. Besonders rasch ging dies bei den unmittelbar mit den Europäern handelnden Völkern an den Großen Seen und bei jenen subarktischen Gemeinschaften, die den Europäern Felle anboten. Im Gegenzug erhielten die Indianer baumwollene Gewänder, Messer, Eisenäxte und Scheren. Im Verlauf des 17. Jahrhunderts nahm im Gebiet der britischen Kolonien und des Sankt-Lorenz-Stromes die Verwendung von Feuerwaffen — auch zu Kriegszwecken — zu. Die Völker des Nordens erhielten von den baskischen Walfängern kupferne Kessel, wodurch die bis dahin verwendeten Holzgefäße außer Gebrauch gerieten. Zu den weniger segensreichen Errungenschaften, die die Europäer ins Land brachten, zählte freilich der Branntwein. Eine schnell von den Ureinwohnern übernommene Neuerung stellte schließlich das Pferd dar, das rasch Verwendung als Last- und Zugtier fand.
 
 Verdrängung, Ausrottung und Marginalisierung
 
Dort, wo die Kontakte zwischen Europäern und Amerikanern im 17. Jahrhundert intensiver Natur waren, im Gebiet des Sankt-Lorenz-Stroms, im Bereich der Ostküste sowie in den von Franzosen durchquerten Gebieten des Mississippibeckens, wiederholte sich das schon aus der Karibik, aus Hispanoamerika und Brasilien bekannte Schema. Mit der Zahl der Europäer wuchs auch die Wahrscheinlichkeit, an den aus der Alten Welt eingeschleppten Krankheiten zu sterben. Während einige Völker gänzlich den Viren und Bakterien zum Opfer fielen, stabilisierten sich andere in der Regel bei etwa 10 bis 20 Prozent des Niveaus, das die Ethnien vor dem Zusammentreffen mit den Europäern erreicht hatten. Freilich führte die geringe Kopfstärke der einzelnen Gruppen häufig auch zu deren völliger Auslöschung. Die auf Neufundland lebenden Beothuk, die den Europäern die Walfangtechnik beigebracht hatten, erlagen dem Tuberkelbazillus völlig. 1824 verstarb die letzte Beothuk.
 
War anfangs noch ein gedeihliches Zusammenleben zwischen Indianern und weißen Siedlern möglich, so kollidierten innerhalb kürzester Zeit indianische Interessen und europäischer Landhunger. Franzosen, Angelsachsen, insbesondere englische Puritaner, Holländer und Schweden dankten den Indianern ihre Dienste nicht. Mit der Gründung Jamestowns im Jahre 1607 im Gebiet der Powhatan gewann die europäische Durchdringung an Dynamik. Schon 1622 musste Powhatans Nachfolger, Opechancanough, eine vernichtende Niederlage einstecken. Der Expansion der weißen Siedler stand nichts mehr im Wege. Vor allem der sich in jeder Hinsicht lohnende Tabakanbau (besonders in Virginia), der von den einströmenden Kolonisten betrieben wurde, schien eine bei den Europäern populäre Überzeugung zu stützen: Die »indianischen Faulpelze« nutzten nicht die ökonomischen Chancen einer intensiven Landwirtschaft, begnügten sich allenfalls mit extensivem Feldbau. Konflikte ergaben sich nicht zuletzt aus den unterschiedlichen Vorstellungen von Grenzen, Territorien und Besitzrechten. Die nordamerikanischen Indianer konnten nicht einsehen, warum das Land nur einer Gruppe gehören sollte. Bei der Jagd kam es daher in den Augen der Weißen häufig zu Grenzverletzungen. Rivalitäten um Lebensraum und Felle taten ein Übriges. Bei den Auseinandersetzungen konnten die Weißen häufig auch innerindianische Konflikte für sich nutzen. So standen die Narragansett den Engländern gegen die Pequot bei. Im Pequotkrieg (1636/37) wurde diese Ethnie physisch fast völlig vernichtet. Kurze Zeit später (1643) gingen die Mohegan gegen die Narragansett vor. Rivalitäten der Abenaki, Pawtucket, Massachusett, Narragansett, Wampanaog untereinander spielten Engländern, Holländern und Franzosen in die Hände. Nach dem Krieg König Philipps (1675), so nannte man den Häuptling Metacomet, waren in Neuengland kaum mehr autochthone Bewohner anzutreffen.
 
Zu einer Rassenvermischung wie in Mittel- und Südamerika kam es kaum. Im Gegensatz zu Hispanoamerika und Brasilien gingen in den englischen Kolonien in der Regel feste Familien- und Verwandtschaftsverbände an Land. Allenfalls Weiße aus Neu-Frankreich gingen Verbindungen mit Indianerinnen ein. Die Forschung hat nachgewiesen, dass es auch eine beträchtliche Zahl von »kulturellen Überläufern« französischer Herkunft gegeben hat. Dies waren zumeist »Waldläufer«, bisweilen auch Ordensgeistliche, die zeitweise oder auf Dauer indianische Lebensformen annahmen. Das von der europäischen Aufklärung popularisierte Bild des »edlen Wilden«, der fern der Kultur ein »unverdorbenes Leben im Schoße der Natur« (Rousseau) führe, scheint hier wirkungsmächtig geworden zu sein. Insgesamt wird man dagegen die angelsächsische Kolonisation — vor allem bei den Quäkern — als wesentlich indianerfeindlicher charakterisieren müssen als die der Franzosen in Kanada. Zu den wenigen Beispielen einer Mischehe zählt die indianische Prinzessin Pocahontas, die sich mit dem englischen Siedler John Rolfe verehelichte.
 
Die Auseinandersetzungen des 17. und 18. Jahrhunderts gaben einen blutigen Vorgeschmack auf das, was die Prärie- und Puebloindianer im 19. Jahrhundert erwartete. Einzig in den Landschafts-, Fluss- und einzelnen Ortsnamen, die auf indianische Bezeichnungen zurückgehen und von den Europäern übernommen wurden, wird man in den USA heute noch an die indianische Vergangenheit erinnert. Mit der Westdrift der neuen unabhängigen USA gerieten auch die indianischen Völker westlich des Mississippi in die Defensive. Am Ende stand schließlich die fast völlige physische Vernichtung der nordamerikanischen Indianer.
 
Dr. Peer Schmidt, Ingolstadt

Universal-Lexikon. 2012.

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